80 Grad Nord, nein die Mittleren Breiten, 47 Grad Nord, 700 m ü. NN. Die Zeit steht still. Kälte. Eisberge. Ich klettere, festhalten, nicht loslassen. Ein Ziel, stark sein, Hinfallen, Aufstehen, Erleichterung. Umdrehen. Eisbären. Wo ist Grönland? Breaking News! Pinguine sind aufgrund des Klimawandels in die Arktis geflüchtet. Die Welt steht still. Verrückt. Krill. Wale, Robben. Die Alpen, Standfestigkeit. Ein Schiff in Sicht. Ach es ist Norwegen, ich bin im Fram Museum. Werft sie von Bord. Polarforschung, Egoisten. Wer ist der erste am Nordpol? Meine Gäste, die Hoffnung. Es ist komisch. Achtung, wir sinken. Nein wir driften, die Natur ist gnädig. Pass auf, ein Eisbär. Ich korrigiere, es ist doch der Mensch. Wir konsumieren uns zu Tode. Ich wache auf.
Zeitreise
Ich sitze im Flugzeug auf dem Weg nach Island. Unten im Ozean ein kleiner Punkt- ein Containerschiff. Wie viele Menschen sind dort, welche Nationalitäten? Wohin das Schiff wohl fährt, welche Fracht wird transportiert? Ist es die neueste Autolieferung oder wird Schrott nach Afrika geschippert? Hauptsache, der Müll wird weit weg von uns gebracht. Die Sonne scheint und die Wolken spiegeln sich auf der Meeresoberfläche, werfen Schatten. Auf dem kleinen TV-Display im Flugzeug sieht man den aufgezeichneten Flug von München nach Island. Ein paar Flugminuten später erscheint Grönland auf dem Bildschirm, die größte Insel der Welt. Wie es hervorsticht, das Herzstück der Arktis. Mein Hals schnürt sich zu.
Die Fram-Expedition- Vorbild für die größte Arktis-Expedition unserer Zeit
Vor rund 130 Jahren war der Nordpol und die zentrale Arktis ein noch immer unerreichtes Ziel. Sehr viele Schiffe und Expeditionen hatten bereits versucht, die „Ersten“ am Pol zu sein, scheiterten allerdings an Eis und Kälte. Es war im Jahr 1884, als der norwegische Polarforscher Fridtjof Nansen in der Zeitung las, dass die Trümmerteile des US-Kanonenboots „Jeannette“ vor der Südwestküste Südwestgrönlands gefunden worden sind. Das Interessante dabei war, dass dieses US-Schiff vor der sibirischen Küste gesunken ist. Daraus schlussfolgerte Nansen, dass „Jeannette“ auf einer Eisscholle quer durch das Polarmeer gedriftet sein müsste. Er ging also von einer Eisströmung aus, die es im arktischen Ozean gibt und welche sich auch für Forschungszwecke nutzen lassen könnte. Dies gab ihm Anlass, zugleich als erster Forscher den Nordpol zu erreichen und plante die waghalsige Fram-Expedition (1893-1896). Nansen lies dafür eigens das Schiff mit einem stabilen und abgerundeten Rumpf konstruieren, sodass es nicht vom Packeis zerquetscht werden. Er hat Pionierleistung gezeigt, niemand vor ihm war so weit oben im Norden wie er und sein Team.
Die Vorbereitung oder auch „Prä-Corona“
Seit November bereite ich mich mental und körperlich auf die Zeit im arktischen Ozean vor. Es ist die größte Arktis-Expedition unserer Zeit – MOSAiC bedeutet Multidisciplinary drifting Observatory for the Study of Arctic Climate. Seitens des Alfred-Wegener-Instituts für Polar-und Marineforschung wird diese einmalige Expedition seit ca. 10 Jahren vorbereitet und tritt in die Fußstapfen von Ideengeber Fridtjof Nansen. Im September 2019 hat der deutsche Forschungseisbrecher Polarstern den Hafen von Tromsö verlassen und driftet seit Oktober letzten Jahres verankert an einer Eisscholle im arktischen Ozean. Im Gegensatz zu Nansens dreijähriger Expedition ist die MOSAiC-Expedition für ein Jahr geplant. Ziel dabei ist, den Klimawandel in der Arktis besser zu verstehen, denn diese Region ist das Epizentrum der globalen Erwärmung. Nirgendwo sonst auf der Welt wird es so schnell wärmer als in dieser kalten, fragilen und einzigartigen Erdregion. Gleichzeitig ist die Arktis eng mit dem Wettergeschehen in unseren Breiten verknüpft. Wissenschaftler aus der ganzen Welt versuchen die komplexen Zusammenhänge und Prozesse von Ozean, Eis und Atmosphäre zu verstehen und somit Wissens- und Datenlücken zu schließen. Insgesamt ist die Expedition unterteilt in 6 LEGs, sogenannte Zeitabschnitte, für welche die Forscher und die Crew ca. alle zwei bis drei Monate mittels zusätzlicher Eisbrecher ausgetauscht werden.
Neben einer allgemeinen Untersuchung, mehreren Bluttests, Termine beim Frauenarzt und Zahnarzt gehörte auch auch ein Besuch beim Expeditionsarzt in Bremerhaven mit zur Vorbereitung. Bei Auffälligkeiten oder schlechten Werten ist man von der Expedition ausgeschlossen. Des Weiteren sind alle Teilnehmer der Expedition verpflichtet, an einem Safety Briefing und einem sogenannten „Polar Bear Course“ teilzunehmen.
Was die Sicherheit während MOSAiC betrifft, sind für jeden Zeitabschnitt insgesamt acht Eisbärenwächter eingeplant. Ich gehöre zum Team Safety & Logistik und unsere Aufgabe besteht darin, die Wissenschaftler während ihrer Arbeiten auf dem Eis zu beschützen und wachsam zu bleiben. Ein Eisbärenwächter steht auf der Brücke, hat somit den Überblick über seine Kollegen auf dem Feld, übernimmt die Koordination und ist gleichzeitig die Hauptsprechzentrale. Ein Wächter steht auf der Gangway mit dem Fernglas und der Rest ist bei den Wissenschaftlern auf dem Eis. Hier wird regelmäßig rotiert. Jeden Tag gibt es eine Besprechung und natürlich werden sämtliche Szenarien durchgegangen. An dieser Stelle möchte ich klarstellen, dass es nicht darum geht, ein Tier zu töten, die stärkste Waffe ist immer noch das Fernglas. Wenn man frühzeitig einen Bären sichtet, besteht eine große Chance rechtzeitig zu reagieren und die Teams zu evakuieren. Das umfangreiche Eisbärensicherheitskonzept dient dem Schutz der Eisbären genauso wie dem Schutz der Menschen.
Auf dünnem Eis- eine Zeit in Quarantäne
Normalerweise wäre mein Flug nach Spitzbergen Ende März vorgesehen. Von dort wären wir mit russischen Kleinflugzeugen auf eine im Meereis angelegte Landebahn zur Polarstern geflogen. Seit Anfang März befinde ich mich unter selbst auferlegter Quarantäne, denn als der Austausch noch in der Schwebe stand, mussten wir Teilnehmer uns auf Covid-19 testen lassen. Nachdem Norwegen die Grenzen geschlossen hat, war dies leider wieder hinfällig und der Austausch verschoben. Natürlich lagen meinen Nerven oftmals ziemlich blank, ein Zustand von Ungewissheit ist generell alles andere als angenehm. In den letzten Wochen gaben mir die Berge, Yoga und Meditation innere Stabilität. Es geht hier nicht nur um ein Abenteuer sondern auch um ein finanzielles Einkommen, um einen Job und eine Perspektive.
LEG 4 bedeutet Zeitabschnitt vier, denn alle zwei bis drei Monate findet ein Austausch von den Teams statt. D.h., in der aktuellen Situation findet für das Team und die Crew von LEG 3 ein verspäteter Austausch von ca. zwei Monaten statt. Ein paar von ihnen sind bereits über Station Nord (Nordgrönland) mittels kanadischer Flugzeuge evakuiert worden. Seit Mitte April gibt es endlich einen Plan. Wir werden mit den Schiffen „Sonne“ und „ Maria S. Merian“ von Bremerhaven zur Polarstern an die Eiskante gebracht. Im Isfjorden/Spitzbergen werden die Schiffe aufgetankt, das Land dürfen wir nicht betreten.
Seit dem 30.04. befindet sich das Team und ich in einem Hotel am Fischereihafen in Bremerhaven, wo wir in der ersten Woche (Phase 1) unter Einzelquarantäne standen. Mitsamt neuer Besatzung von Polarstern, der Besatzung von Sonne und Maria S. Merian sowie uns Teilnehmern handelt es sich um ca. 150 Menschen. Für die Quarantäne wurden zwei Hotels gebucht. Insgesamt unterziehen wir uns drei Corona-Tests und ich kann mir Angenehmeres vorstellen: mit einem Wattestäbchen durch ein Nasenloch in den Rachen hinein. Gottseidank wurden wir alle negativ getestet.
Die Zimmer durften wir während Phase 1 für eine Woche nicht verlassen, das Essen wurde vor die Tür gestellt. Sollte jemand die Regel brechen, ist diese Person von der Expedition ausgeschlossen. Es ist eine krasse Erfahrung aber man weiß ja, wofür man das alles macht. Dennoch fühlen sich die letzten Wochen und Monate an, wie eine Expedition vor der Expedition. Ich freue mich, dass es endlich weitergeht und gleichzeitig bin ich natürlich auch traurig, dass ich mich von niemandem verabschieden konnte und keine Kontakte seit März hatte. Wir Menschen sind soziale Wesen und wir brauchen Nähe, unsere Freunde und die Familie. Ich hoffe, ich kann das alles nachholen.
Die Schiffe „Sonne“ und „ Maria S. Merian“ starten am 18.05., dann geht es mit einem Team auf eine schwimmende Isolation in die „Prä-Corona-Zeit“. An der Eiskante auf Höhe von Spitzbergen treffen wir auf die Polarstern wo gegen Ende Mai der Austausch von LEG 3 und LEG 4 erfolgt.
Zwischen den Welten
Während der Isolation und der Corona-Beschränkungen habe ich viel an Grönland gedacht. Dass, was uns so schwer fällt einzuhalten, gehört in den meisten Siedlungen zur Normalität. Die Grönländer haben aufgrund der gegebenen natürlichen Bedingungen kaum Mittel, um schnell in ein anderes Dorf zu gelangen. Lediglich die Küsten sind eisfrei und somit bewohnbar. Es gibt in den Siedlungen keine Cafes, keine Freizeiteinrichtungen, keine Möglichkeit zur Ablenkung. Es gibt allerdings den „Pillersuisoq“, der Supermarkt, welcher von Versorgungsschiffen während der Sommermonate wieder aufgefüllt wird. Und das ist der Haupttreffpunkt für viele. Um sich „abzulenken“, werden dort Softdrinks und Süßigkeiten gekauft, sowie Alkohol konsumiert. Zu Hause herrscht nicht selten häusliche Gewalt, denn seit der Modernisierung in den 1960er Jahren kämpfen vor allem die jungen Menschen mit Identitätsproblemen. Die meisten Grönländer sehen zudem wenig Sinn dahinter, einfach rein aus einer sportlichen Motivation in die Berge zu gehen. Solange es keinen Grund wie die Jagd gibt. Während der Corona-Zeit habe ich einige Parallelen entdecken können. Nur waren wir denn wirklich so sehr eingeschränkt? Für ein paar Wochen haben wir einfach mal zu Hause bleiben müssen. Einkaufen gehen durften wir dennoch und unsere Supermärkte werden das ganze Jahr hindurch aufgefüllt. Dass, was wir wohl alle am meisten vermissen oder vermisst haben, war der Kontakt zu unseren engsten Freunden und zur Familie. Und gerade hier merkt man doch, wie wichtig ein stabiles soziales Umfeld ist. Der Mensch braucht diese Kontakte. Vor ein paar Jahren habe ich meinen Freund aus Ostgrönland gefragt, was denn sein großer Wunsch sei. Er antwortete: „ich möchte nach Isortoq zurück, das ist eine kleine Siedlung am Rande vom Inlandeis im Distrikt Ammassalik. Ich möchte Robben jagen und fischen gehen und mit meinen Kindern eine schöne Zeit haben.“ Nachdem ich gefragt habe, ob das nicht zu gefährlich sei, dort gibt es ja schließlich keine Möglichkeit zur ärztlichen Versorgung bekam ich zu hören: „Das ist mir egal, aber ich habe meine Ruhe und bin mit den einfachen Dingen glücklich. Wir sind nicht unsterblich.“ Und das stimmt. Jahrhundertelang mussten die Grönländer Eis, Wind und Kälte trotzen und hatten dabei keine Angst vor dem Sterben. Aber sie haben Angst vor Einsamkeit.
Die ökologische Krise
Den Wissenschaftlern und uns „Vermittlern“ ist klar, was der Klimawandel bedeutet und für zukünftige Generationen anrichtet. Dennoch ist es wichtig zu verstehen, warum eine so aufwendige Expedition in die Arktis geplant ist und wieso ein Jahr in dieser sensiblen Erdregion geforscht wird. Während der Quarantäne habe ich einen jungen Wissenschaftler aus Bangladesh kennengelernt. Was den Meeresspiegelanstieg betrifft, ist seine Heimat mit am stärksten betroffen und bei der hohen Bevölkerungsdichte gemischt mit viel Armut ist das eine Tragödie. Die Wahrheit ist unangenehm und wird gerne verdrängt. Dennoch könnte man sagen, dass die Erde wahrhaftig einer Katastrophe entgegentreiben könnte und oft frage ich mich: wenn die Erde wirklich unser Blut ist, warum begehen wir dann mit ihrer Zerstörung einen langsamen und qualvollen Selbstmord?
Dieser Gedanke mag sehr dramatisch klingen, aber offensichtlich benötigt es ein gewisses Maß an Dramaturgie, damit wir Menschen endlich aufwachen. Um den Klimawandel mitsamt seiner Auswirkungen entgegenzusteuern, sollte die Menschheit die CO₂-Emissionen massiv reduzieren. Wahrscheinlich werden wir die 1,5 Grad Grenze nicht mehr erreichen, die 2 Grad Grenze ist bei massivem Gegensteuern noch zu schaffen. Vielleicht ist die gegenwärtige „Umweltkrise“ vor allem auf ein zersplittertes Weltbild zurückzuführen, in dem sich tiefe Gräben auftun zwischen Geist, Kultur und Natur, Gedanken und Dingen, Werten und Fakten. Man kann die Welt nur kollektiv „heilen“, hierfür ist aber die Politik gefragt, es fehlt an internationalen Rahmenbedingungen. Ein einzelner Mensch kann tatsächlich wenig zur Veränderung beitragen. Es braucht einen Ansatz, der ausgerichtet ist auf mehr Beziehung und Integration, auf mehr Respekt für die Erde und all ihrer Bewohner und weniger anthropozentrische Arroganz und Habgier. Ob alle gesellschaftlichen, wirtschaftlichen oder auch ökologischen Krisen dieser Welt- vielleicht entspringt dieses zersplitterte Weltbild aus der Tatsache, dass wir unsere Vorstellungen und Begriffe eines überholten Weltbilds- eines mechanistischen und technologischen, medialen Weltbildes auf eine Wirklichkeit anzuwenden versuchen, die es so gar nicht gibt. Das klingt alles ziemlich komplex und genau das ist es leider auch. Wir leben inzwischen in einer global vernetzten Welt, die vieles einfacher macht aber gleichzeitig auch schwieriger. In dieser schnelllebigen Gesellschaft, begleitet von wirtschaftlichem Profit und Egoismus, haben wir eines verlernt: Den Blick auf das Wesentliche zu reduzieren und achtsam mit unseren Ressourcen umzugehen.
Wunderschöner Bericht und sehr interessant Laura.
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Liebe Laura! Ich hatte das große Glück, vor 2-3 Jahren mit dir als Reiseleiterin den Gardasee zu erkunden. Wir machten zu zweit eine leichte, schöne Wanderung und waren uns einig, daß Geographie einfach das Beste aller Studienfächer war und ist. Ich hoffe, du hast es zur MOSAiC-Expedition geschafft (Was für ein Traum für eine Glaziologin!) und wünsche dir weiterhin viel Glück und alles Gute! Du hast es verdient. Wie geht es deinen Katzen? Liebe Grüße Silke
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